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Buchtipps von Rainer Moritz

Welche Gemeinsamkeiten haben Lars Klingbeil, Christian Lindner, Paul Ziemiak, Franziska Brantner und Annalena Baerbock? Diese Generation der 40-jährigen schickt sich an, in unserem Land das Ruder zu übernehmen, mitten in einer ausgeprägten Krisenzeit. Das Buch ist vor dem Ukrainekrieg entstanden, aber schon davor stapelten sich die globalen Probleme. Nora Bossong wirft einen sezierenden Blick auf ihre AltersgenossInnen. Wie schlagen sie sich und wie wurden sie zu dem, was sie heute sind - diese Sandwich-Generation zwischen den Alt-68jährigen und der Fridays for Future-Jugend.

Über zehn Jahre haben der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow an dem 672 Seiten starken Wälzer neben ihren Lehrtätigkeiten geschrieben. „Anfänge“ hinterfragt viele Denkansätze über die Entstehung und Entwicklung  der Menschheitsgeschichte - und dies weltweit, also nicht eurozentriert wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Wie kam es zur Entstehung der Städte? Welche Rolle spielt die Landwirtschaft in den Anfängen der Zivilisation? Welche Formen sozialer Organisation gab es?  Graeber und Wengrow sehen keine lineare Weiterentwicklung der Menschheit.

Der Klappentext drückt tatsächlich das Wesentliche aus: Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt (in Deutschland), und nie war elementarer zu spüren wie brutal selbstbestimmtes Leben in Einsamkeit umschlagen kann (gerade in Pandemie-Zeiten). Aber kann man überhaupt allein glücklich sein? Fragt der überzeugte Single Daniel Schreiber. Im Rückgriff auf eigene Erfahrungen, philosophische und soziologische Ideen ergründet er das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Rückzug und Freiheit und dem nach Nähe, Liebe und Gemeinschaft.

Frei nach Seume „es ging alles viel besser, wenn man mehr ginge“ muss man zwar nicht bis nach Syrakus wandern, denn die nähere und weitere Umgebung bietet auch viele Möglichkeiten. Außerdem hat man heutzutage auch nicht mehrere Monate Zeit dafür. Aber das Wandern hat in Lockdown- Zeiten doch enormen Zuwachs erfahren. Taufrisch der neue Band in der beliebten Eskapaden-Reihe „Auf geht‘s zum Wandern“ mit 52 Tipps vom Norden Deutschlands bis in den Süden. Sowohl Tagesals auch mehrtägige Touren. Natürlich ist auch das Taubertal mit einem Vorschlag dabei.

1947 - die Nürnberger Prozesse: Einer der Angeklagten ist Ernst von Weizsäcker, SS-Brigadeführer und Spitzendiplomat unter Ribbentrop. Zu seinen Verteidigern zählt auch sein Sohn Richard, der vier Jahrzehnte später als Bundespräsident in seiner Rede vom 8. Mai über Kriegsschuld und die Befreiung Deutschlands vom Nazi-Gräuel sprechen wird.

Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Sie vertieft sich immer weiter in deren Geschichte, denn gesprochen wurde über die Vergangenheit in Isas Familie kaum. Weder darüber, dass Dora in den 1920er Jahren die heutige Folkwangschule besuchte, noch warum ihr Vater in einer der berüchtigten Napola-Schulen war, denn ihr Großvater war ein Verwaltungsdirektor bei I.G. Farben. Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, umso klarer wird ihr Blick auf Dora - und auf sich selbst.

Timothy Snyder „Über Tyrannei - Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ ist bereits 2017 erschienen, also zu Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump. Die Bezüge dazu sind deutlich, aber die Themen auch jetzt nicht aus der Welt. Nora Krug, die deutschamerikanische Illustratorin und Autorin mit familiären Wurzeln aus Külsheim, hat sich zu einem tollen grafischen Kunstwerk inspirieren lassen. Wie bereits bei ihrem Buch „Heimat“, das ich heute noch gerne empfehle, hat sie Synders Buch in ihre ganz eigene Bildsprache übertragen.

Bei Sebastian, einem 24-jährigen Studenten wird Krebs diagnostiziert. Aber es ist keine schlimme Krankheitsgeschichte die Berge von verheulten Papiertaschentücher verursacht, wenngleich die Diagnosebesprechungen und Klinikaufenthalte natürlich entsprechenden Raum einnehmen. Aber Sebastian mutiert nicht zum ausschließlich Kranken, zum Patienten ohne „Restleben“. Er trifft und verliebt sich in Linus und hat einige schöne Begegnungen mit ihm. Der Roman ist unterhaltsam trotz durchaus denkbaren Tod. Ohne viel Pathos zeigt der Roman den Wert von Familie und Freundschaft.

Eine überaus lesenswerte Familiengeschichte auf der Höhe der Zeit. Hauptpersonen sind Hans, ein Alt-68er pensionierter Jurist und seine Tochter Saskia, auch sie Juristin, aufgewachsen in bunten WGs, jetzt aber treusorgende Mutter zweier Söhne in Elternzeit. Als ein Windpark vor ihrer Haustüre geplant wird, engagiert sie sich in einer BI und findet dort Mitstreiter mit einer viel grundsätzlicheren Kritik an der heutigen Gesellschaft. 

Rechtzeitig zum Hölderlin-Jubiläum ist der Band „Hölderlins Geister“ von Karl-Heinz Ott erschienen. Es ist keine Biographie, sondern die Rezeptionsgeschichte von Hölderlin und seinem Werk. Wobei die Rezeption so unterschiedlich ist, wie bei fast keinem anderen Dichter. War er verrückt oder ein Simulant? Im 19. Jahrhundert fast vergessen, wird er vom George-Kreis wiederentdeckt, dann von Heidegger vereinnahmt und später vom Verlag Roter Stern für eigene Zwecke reklamiert.